Wie man Enkelkinder wieder zur Schule schickt

Und was die Stiftung „Besser Sehen!“ damit zu tun hat

von Luzia Bruns

Was ist das Auge und was bedeutet es einem? In den meisten Fällen meint man die Frage ganz gut beantworten zu können. Schließlich haben viele von uns mal gemeinsam mit sensiblen und unsensibleren Klassenkameraden Schweineaugen seziert und in etwa besprochen, wie das Prinzip der Kurz- und Weitsichtigkeit so funktioniert. Zusätzlich besteht der allgemeine Konsens darüber, dass es doch ganz schön ist, dass man etwas sehen kann und auch wenn man sich als neuer Brillenträger erst einmal ärgert, dass der Tag gekommen ist, bleibt der WOW-Effekt des klaren Sehens dann doch nicht aus, wenn die neue Brille auf der Nase sitzt.


Richtig beurteilen, was der Verlust des „Augenlichts“ in unserer Gesellschaft aber ausmacht und wie sehr wir von unserer visuellen Wahrnehmung profitieren (physisch, psychisch und ökonomisch), können aber nur Menschen mit ausgeprägter Seheinschränkung. Selbst in einem Land mit hohem Standard in der medizinischen Versorgung, sowie sich tendenziell bessernden Möglichkeiten für seheingeschränkte Menschen, sorgt eine starke Sehbeeinträchtigung, da sie hierzulande weiterhin häufig „sozial“ unterversorgt bleibt, für ausgeprägte Folgen im Alltag.


In unserem Partnerland Uganda sieht es allerdings noch um einiges dramatischer aus. Es fehlt, trotz ausgeprägter Motivation, an einfachen Hilfsmitteln wie auditiven Angeboten und auditiver Unterstützung (Ampelgeräusche etc.), Texten in Brailleschrift bzw. Möglichkeiten diese zu erlernen, Schulungsorten für Sehbeeinträchtigte, Langstöcken und personeller Pflege oder für die große Stufe vor der Blindheit die einfache Brille oder das saubere Wasser zur Infektionsprävention. Ganz zu schweigen von der fehlenden grundlegenden medizinischen Versorgung, welche das Problem verbessern oder beheben könnte. Spezialisierte Pflegekräfte und Operationstechnische Assistent:innen, sowie Ophthalmolog:innen sind aufgrund der eingeschränkten Bedingungen und längeren sowie teureren Ausbildung nur sehr schwer zu finden und dann auch schwer zu bezahlen oder zu erreichen.
Dies sorgt in Uganda für hohe Zahlen an vermeidbaren Fällen von Erblindungen. Ungefähr 80% der Erblindungen in Uganda wären vermeidbar und könnten behoben werden. Hauptsächliche Verursacher der Blindheit in Uganda sind der Graue Star/Katarakt (ca. 50%) und der Grüne Star/Glaukom (ca. 10%), sowie eine hohe Anzahl an nicht behandelten bakteriellen und viralen Infektionen (ca. 30%). Letztere sorgen gerade bei Kindern schon pränatal oder in jungem Kindesalter für Fälle von Blindheit, während der Graue Star hauptsächlich eine Rolle im fortgeschrittenen Alter spielt.


Altersgruppenunabhängig bieten sich allerdings wenig Möglichkeiten und schlechte Perspektiven. Die Patient:innen können nicht zur Schule oder zur Arbeit gehen und stehen gerade in einem Land mit einem hohen Anteil an nutritiver Selbstversorgung vor zusätzlich großen Problemen. Sind ältere Menschen der Familie erkrankt, wird, damit es jemanden gibt, der sich 24/7 um die erkrankte Person kümmert, einem oder mehreren Kindern zusätzlich der Gang zur Schule verwehrt.. Somit sorgt Blindheit in Uganda nicht nur für mangelnde Teilhabe der betroffenen Person, was an Komplexität schon ausreichen würde, sondern auch für eingeschränkte Teilhabe der gesamten Familie und vor allem der Kinder.


Als wir und unsere Freunde in Obiya Palaro im Januar 2020 von der Anfrage seitens Dr. Ralf Gerl hörten, er beabsichtige mit seiner Stiftung „Besser Sehen!“ in Zusammenarbeit mit einem christlich geprägten Projekt eine Augenklinik in Uganda aufzubauen, waren wir begeistert von dem Angebot mit solch weitreichenden Möglichkeiten. Uns war allerdings noch in keinster Weise bewusst, wie emotional bewegt wir Anfang August 2022 vor unseren Laptopbildschirmen sitzen würden.


Nach anfänglichen Treffen und dem gemeinsamen Beschluss der gesamten Teams in Uganda, Münster und Ahaus, dieses Projekt in Angriff zu nehmen, lag vor uns viel Motivation auf allen Seiten und ein sehr steiniger Weg, auf dem jeder das ein oder andere Mal etwas gestolpert ist. Das „böse“ Corona-Virus möchte ich nicht ausführlich erwähnen, aber es kam neben vielen anderen Dingen auch dazwischen. Die Masse und die Wucht der teilweise auch neuen Aufgaben, überdeckten nicht allzu selten das wunderbare Endziel, das wir alle von uns angestrebt haben und machten die Vorstellungskraft häufig kaputt. Und das alles bei Menschen, welche zu einem großen Teil neu aufeinandergetroffen sind. Es gab aber eine kleine Gruppe an Leuten, welche trotz all des Stresses und der Unwägbarkeiten zu jedem Zeitpunkt daran geglaubt haben, dass sich irgendwann alles fügen wird und genau das entsteht, was sich alle gewünscht haben – das unermüdliche Team aus Obiya Palaro um unsere Health Centre Mitarbeiter:innen, Dr. Onen und OCO Margaret, sowie Fr. Cyprian.


Überhaupt, und dies muss erwähnt werden, ist dies kein Einzelfall. Was unsere Freunde in Obiya Palaro, zuletzt unter der Leitung von Fr. Cyprian, in all den Jahren der Partnerschaft und der Freundschaft leisten, ist bemerkenswert und sie stecken wirklich jeden in der Nachbarschaft, in der Region und im weiteren Einzugsgebiet, sowie jeden Besucher damit an. Sie sind ein Vorbild für zukünftige Generationen und inspirieren viele. Jeder einzelne von ihnen kann stolz auf sich und sein Schaffen sein und wir sind jeden Tag glücklich ein Teil der Reise sein zu dürfen.


Machen wir nun einen kleinen Zeitsprung zur letzten Juliwoche 2022. Nachdem über zwei Jahre und in den letzten Wochen viel passiert ist und die Stiftung „Besser Sehen!“ mit ihrem gesamten Team das Projekt in einem vorher nicht erahnten Ausmaß unterstützt hat (insbesondere Suche nach Personal, Umbau der Räumlichkeiten, Verlegen passender Leitungen für Strom und Wasser, Installation einer guten neuen Solaranlage), sind immer noch viel Fragen offen. Allen Fragen voran die folgende: Kommt der bereits stark verspätete Container mit den Medizintechnik-Produkten für Augenoperationen und der Grundausstattung für das erste Eye-Camp (ausgedehnte OP-Tage mit dem ugandischen und deutschen Team mit vergünstigter Behandlung aller Patient:innen) nach einer langen Wartezeit in Mombasa noch rechtzeitig an? Die Antwort war leider „nein“.


Viele Faktoren führten dazu, dass der eng gestrickte Zeitplan, zu scheitern drohte. Nichtsdestotrotz entschied sich das deutsche ophthalmologische Team um Dr. Ralf Gerl, seinen Sohn Dr. Matthias Gerl, sowie Themistoklis Tsintarakis und eine Großmannschaft des Praxisteams der Augenpraxis „Augenärzte Gerl&Kollegen“ äußerst mutig dazu, wie geplant nach Uganda aufzubrechen. Ebenso reiste Franz-Xaver Schwagerl, der schon in Deutschland für den sicheren Transport zuständig war, zur Unterstützung bei der Installation der OP-Geräte an. Weiterhin reiste ein Freund der Familie Gerl, Christian Beck, vom fotoforum Münster mit, der das Team vor Ort unterstützte und dem wir die herrliche Bilddokumentation verdanken. Als die Reisegruppe angekommen war, standen wir alle allerdings weiter vor demselben Problem. Der Container war zwar inzwischen via Mombasa in Kampala im Zoll angekommen, sollte aber erst einmal dortbehalten werden und konnte somit noch nicht nach Obiya Palaro aufbrechen. Dies war für alle eine wahre Gedulds- und Zerreißprobe. Wir, die in Deutschland verblieben waren, konnten wenig zur Entlastung und Lösung der Situation beitragen. Es hing einzig und allein an den Mühlen des ugandischen Systems und gegen die konnte nur fleißiges Bemühen, Geduld, Vertrauen und Zeit etwas tun. Knapp eine Woche verstrich bis durch die harte Arbeit des gesamten Teams und ganz besonders durch die Arbeit von Fr. Cyprian, Dr. Onen und Bob Okello die gute Nachricht kam, dass der Container auf dem Weg sei. Am 28.07 war die Freude und Erleichterung somit riesig, als er sicher das Projekt erreichte und entladen werden konnte. Alle halfen fleißig mit, dass das Equipment an den vorgesehenen Platz in den zwar noch nicht perfekten, aber zu dem Zeitpunkt trotzdem „wunderschönen“, Räumlichkeiten gelangte.


Je länger der ganze Prozess nun gedauert hatte, umso engagierter waren ab da alle. „Jetzt erst recht!“. Bereits am Samstag, nur zwei Tage später, konnte die erste Augenoperation in Obiya durchgeführt werden. Obwohl wir nicht vor Ort waren, hätten wir vor Stolz auf das erreichte Ziel fast platzen können und wir können uns nur andeutungsweise vorstellen, wie sich unsere ugandischen Freunde und das Gerl’sche Team gefühlt haben. Einen Tag darauf wurde die nun voll ausgestattete Augenklinik mitsamt den Geräten von Erzbischof John Baptist Odama gesegnet und mit großer Anerkennung begangen. Und ebenfalls nur wenige Stunden später erhielten wir Bilder von langen Warteschlangen vor der Klinik und glücklichen Gesichtern aus den Aufwachräumen. Der Andrang der Menschen, trotz eigentlich kontrollierter Einbestellung bereits vorher gelisteter besonders schwer betroffener Patient:innen, war überwältigend. Viele mussten leider auf einen späteren Zeitpunkt verlegt werden, aber das Wissen über eine baldige Behandlung und eine nun bestehende augenärztliche Grundversorgung „besänftigte“ die meisten. Patient:innen, die zum Eye-Camp gelangten, indem sie durch eine vorausgehende Person an einem zwei Meter langen Stock geführt wurden, wollten diesen direkt nach dem Eingriff wegwerfen. Kurz zusammengefasst: Die Arbeit des gesamten Teams vor Ort ermöglichte nach all den Hindernissen sehr produktive und erfolgreiche Tage. In fünf Tagen konnten knapp über 100 erblindete Patient:innen mit Grauem Star operiert werden.


Ende letzter Woche verabschiedete sich das deutsche Team nach einem aufregenden Aufenthalt in Richtung Deutschland. Das nächste Eye-Camp mit geballter Unterstützung soll im kommenden März stattfinden. Die Geräte und Materialien wurden vor Ort belassen, sodass ein regelmäßiger, aber ruhigerer Betrieb konstant weiterlaufen kann. Dr. Onen und OCO Margaret können somit eine Grundversorgung anbieten und die Patient:innenkartei weiter ausbauen. Besonders wichtig wird in Zukunft die Weiterbildung sein. Sowohl das ugandische Team wird noch vom deutschen Team profitieren als auch umgekehrt. Außerdem wurden die ersten Kontakte zur Universität-Gulu geknüpft, damit Obiya Palaro in Zukunft auch bei der Ausbildung von ophthalmologischem Personal weiterhelfen kann. Eine langfristige Eigenständigkeit der Klinik und ein Ausbau der Räumlichkeiten werden angestrebt. Erstmal werden aber alle eine Weile zum Verschnaufen brauchen und grundsätzlich sollte man aufgrund möglicher Unvorhersehbarkeiten immer etwas Geduld mitbringen. Schließlich ist die Qualität am Ende das relevante Ziel, ob in der Patient:innenversorgung oder in anderen notwendigen Bereichen. Dies hat immer die oberste Priorität für alle Beteiligten.

Wir hatten inzwischen nach einigen Tagen Regenerationszeit ein abendliches Zoom-Meeting mit Fr. Cyprian. Er sagte (frei gemerkt und übersetzt): „Nach den Gottesdiensten in den letzten Tagen, wurde ich schon mehrfach von operierten Patient:innen angesprochen. Sie haben sich nochmal herzlich bedankt und alle haben versprochen ihre Enkel wieder zur Schule zu schicken.“ Wie gesagt, mir war nicht bewusst wie emotional bewegt ich Anfang August 2022 vor meinem flimmernden Bildschirm sitzen würde. Es herrschte dankbare, beeindruckte Sprachlosigkeit.

Bildergalerie – copyright Christian Beck